Große Aufregung... herrschte am Samstag, 21. September am Ortseingangsschild von Freilingen an der Industriestraße. Denn dort hatte sich das "Willkommenskomitee" für Tim-Luca Saur versammelt, um den "Wandergesellen" nach rund 5 Jahren auf der Walz wieder in seinem Heimatort Freilingen zu begrüßen. Entsprechend der traditionellen Vorgaben musste er dabei nach einem genauen Ritual wieder über das Ortsschild klettern. Wie Tim Luca überhaupt auf die Idee kam, so lange auf Wanderschaft zu gehen, was er alles in den letzten 5 Jahren gesehen und erlebt hat und wie ihn die Walz geprägt und verändert hat, kann man hier in einem längeren Interview mit dem jetzt wieder einheimischen Wandergesellen nachlesen. Sehr, sehr interessant!
(Tim-Luca mit seinem Lehrmeister Andreas Ehlen (li) und ehemaligen Arbeitskollegen Felix Giefer)
5 Jahre, genau genommen 4 Jahre und 11 Monate, so lange war Tim-Luca Saur von zu Hause weg.
Der 26jährige Tischlergeselle (Rufname im Ausbildungsbetrieb: Sissi) war nach seiner Lehre auf einer etwas längeren, außergewöhnlichen Reise, der sog. Walz (auch Tippelei genannt).
Die Walz und die damit verbundenen Bräuche gehen bis ins Mittelalter zurück. Gesellen mussten für einige Jahre ihre Heimat verlassen und sollten danach mit dem Wissen und den Techniken aus anderen Regionen zurückkehren. Bis ins 18. Jahrhundert zur Industrialisierung war die Walz sogar Voraussetzung, um Meister werden zu dürfen. Im Bauhaupt- und Baunebengewerbe hat sich die Tradition seit Jahrhunderten erhalten, seit den Fünfzigerjahren wurde die Walz zunehmend auch bei anderen Handwerksberufen beliebt. 2015 wurde die Gesellenwanderschaft als immaterielles Kulturerbe von der UNESCO anerkannt.
(Eifeler Handwerksburschen auf der Walz in Neuss 1929. Foto: Sammlung Ferber/LVR, CC BY 4.0 (Ferber_E_1036/Archiv des Alltags im Rheinland)
Dennoch ist die Walz heute eher etwas Besonderes bzw. Außergewöhnliches. Es sind nur noch oder anders gesagt wieder zwischen 400-500 Wandergesellinnen und Wandergesellen in über 40 Handwerken zur Zeit unterwegs. Der Frauenanteil liegt bei ungefähr 20 bis 25%.
Die Walz, das bedeutet: einfach losgehen, völlig frei sein, viele neue Orte sehen und noch mehr neue Menschen kennenlernen lernen, und das im ganz eigenen Tempo abseits von Stress, Arbeitsdruck und Terminkalender. Es geht aber auch darum, neue Arbeitstechniken zu erlernen, in unterschiedlichen Betrieben zu arbeiten und Erfahrungen für das ganze Leben zu machen. Abenteuer sind dabei garantiert, aber es ist auch eine entbehrungsreiche Zeit, vor allem was Familie, Freunde und Internet angeht, denn eigene Smartphones und Laptops sind absolut tabu bei Reisen. Allerdings kann man sich solche Geräte kurz bei anderen Leuten leihen, um wenigstens hin und wieder Kontakte zu halten.
Wer in traditionellen Kluft auf die Walz geht, muss nämlich auch in unserer digitalen Welt uralten Ritualen, Richtlinien und Regeln folgen.
Die Vorgaben unterscheiden sich von Schacht zu Schacht (Schacht = Vereinigung von Handwerkern, die auf Wanderschaft sind oder waren). Als "Freireisender" ist es dann nochmal anders. Grundsätzlich gilt aber, dass die Wandergesellen maximal 30 Jahre alt sein dürfen, wenn sie losgehen. Außerdem muss man ledig, noch kinderlos, schuldenfrei und nicht vorbestraft sein. Weitere Voraussetzung ist eine abgeschlossene Lehre im Handwerk, denn nur verbriefte Gesellinnen und Gesellen können auf Wanderschaft gehen.
Eine wichtige Regel ist zudem der Abstand zum Heimatort, den alle zünftigen Gesellen während der Wanderjahre wahren müssen, meist ist es ein Radius von 50 Kilometern. Auch ein eigenes Fahrzeug dürfen die Gesellen nicht benutzen. Die meisten sind deshalb per Anhalter unterwegs.
Einer der besonderen Bräuche ist auch der sog. Nagelschnack, das Festnagel auf ein besonderes Versprechen für die kommenden Jahre.
Dabei wird dem Gesellen mit einem Nagel durchs Ohrläppchen an ein Holzbrett geschlagen. Nach dem Versprechen wird der Nagel entfernt und durch den Ohrring ersetzt. Dieser Ohrring ist Pflicht, so dass alle Wandergesellen zumindest einen Ohrring tragen. Übrigens hat der Begriff „Schlitzohr“ seinen Ursprung bei den Wandergesellen. Wer sich nicht an die gesellschaftlichen Regeln gehalten hat, z.B. einen Diebstahl oder eine andere Straftat beging, dem wurde der Ohrring ausgerissen, damit jeder sehen konnte, dass dieser Wandergeselle nicht ehrenwert war.
Wenn es los geht mit der Walz, wird der Neuling in der Regel von einem anderen Wandergesellen abgeholt. Dieser begleitet ihn während der ersten Monate und weist ihn in das Regelwerk der Walz ein. Seit den 1980er Jahren gehen auch Frauen auf Wanderschaft.
Und seit dem 21. Oktober 2019, einen Tag nach seinem 22. Geburtsgtag, war auch Tim-Luca Saur auf Wanderschaft.
Am 21. September 2024 ist er dann wieder auf traditionelle Weise nach Freilingen zurückgekehrt.
(Tim-Luca bei seiner Heimkehr. Den Bart hat er sich auf Wunsch seiner Geschwister angeklebt)
Nun hat er sich dankenswerter Weise Zeit für ein Interview mit WiF genommen.
WiF: Erst einmal herzlich willkommen zurück in Freilingen und vielen Dank für Deine Bereitschaft, unsere Fragen zu beantworten.
Tim-Luca: Gerne!
WiF: Wie bist Du überhaupt auf die Idee gekommen, nach Deiner Lehre in der Schreinerei Ehlen in Lommersdorf mit Anfang 20 auf traditionelle Wanderschaft zu gehen und wie war die Reaktion Deiner Familie auf dieses Vorhaben?
Tim-Luca: Während der Lehre habe ich von einem Berufsschullehrer von der Möglichkeit der Walz erfahren, der selbst auch als Tischler auf Wanderschaft war. Allerdings hat er nicht viel davon erzählt. Daher habe ich in der Verwandtschaft etwas rumgefragt und einer kannte tatsächlich einen Wandergesellen, einen Elektriker, der damals noch unterwegs war
Den Elektriker habe ich dann im Saarland auf einer Veranstaltung getroffen. Er hat mir dann erzählt, dass die Wanderschaft anstrengend ist, man hat keinen Rückzugsraum hat, man fast jeden Tag unterwegs ist und immer unter fremden Menschen ist. Man muss aus seiner Komfortzone herauskommen und ein minimalistisches Leben führen können. Das hat mich sehr interessiert.
Meine Verwandtschaft fand die Idee mit der Wanderschaft dann ganz cool. Mein Vater war auch begeistert. Er hätte es sich selbst nicht zugetraut. Er fand das sehr mutig und hat sich für mich gefreut. Er ist jetzt sehr stolz, dass sein Sohn auf Wanderschaft war. Meine Mutter hatte gerade am Anfang ein bisschen Angst und Sorge, das ist aber bei Müttern wohl normal. Im Schnitt hatten wir alle zwei Monate kurz Kontakt. Dann war sie wieder beruhigt.
WiF: Wie hast Du Dich auf die Walz vorbereitet, nachdem Du den Entschluss gefasst hattest, auf die Walz zu gehen?
Tim-Luca: Der Elektriker auf Wanderschaft hat mir Daten von Veranstaltungen gegeben, die ich besuchen konnte z.B. ein Treffen von Wandergesellen in Halle an der Saale bei Leipzig. Da war 2018 eine große gemeinnützige Wandergesellenbaustelle und ich bin als Interessent dorthin hingereist. Der Wandergeselle hatte mir gesagt, dass ich einen Schlafsack und ein paar Arbeitsklamotten mitbringen sollte und dann einfach zureisen sollte. Ich war ungefähr drei Wochen dort. Das war schon fast eine autonome Siedlung, ein bisschen Pfadfinder, ein wenig Punk. Dort waren 100-200 Gesellen und Gesellinnen anzutreffen, viele, die zu dem Zeitpunkt unterwegs waren, einige, die schon zu Hause waren aber noch einmal dazukamen und andere, die so wie ich zugereist waren und interessiert an Wanderschaft waren. Man muss halt jemanden kennen lernen, einen Altgesellen, der oder die schon mindestens seit ungefähr einem Jahr unterwegs ist und sich bereit erklärt, einen von zu Hause abzuholen. Ich habe dort zum ersten Mal meinen Altgesellen getroffen, aber damals noch nicht direkt gefragt, ob er mich begleiten will, weil er noch nicht lange genug unterwegs war. Ein Jahr später habe ich ihn noch einmal getroffen und ihn dann auch gefragt. Das hat dann funktioniert.
Als es dann offiziell losging, musste meine Familie am Ortsschild mir dann ganz traditionell übers Ortsschild klettern helfen. Das ist dann die sog. Losgeherei. Auf der anderen Seite wurde ich dann von Wandergesellen und meinem Altgesellen aufgefangen. Wenn man nach Hause kommt, ist es dann umgekehrt.
(Start der Wanderschaft 2019)
Nach dem Überqueren des Ortsschildes bin ich die ersten drei Monate mit meinem Altgesellen zusammen gereist, so wie das traditionell vorgesehen ist. Er hat mir alles gezeigt und ich habe gelernt, wie und wo man einen kostenlosen Schlafplatz findet und ohne zu bezahlen reist, da man weder für Unterkunft noch für das Fortkommen etwas bezahlen darf. Er hat mir auch gezeigt, wie man Arbeit findet, aber auch gewisse „Benimmregeln“ beigebracht: wie man auf die Leute zugehet und mit ihnen redet oder auch wie man ein guter Gast ist, damit man einen guten Ruf hinterlässt.
Das ist mit das wichtigste Ding auf Wanderschaft, dass man sich so verhält, dass die nächsten Wandergesellen genauso gut, wenn nicht sogar noch besser aufgenommen werden. Die Regeln, die man auf der Wanderschaft beachten muss, werden dabei alle mündlich vom Altgesellen weitergegeben.
WiF: War es schwierig, immer einen Schlafplatz zu finden?
Tim-Luca: Die meisten kommen nicht auf die Idee, dass ich auch auf dem Boden schlafen kann, wenn man eine Schlafmöglichkeit anfragt. Schließlich habe ich in der Regel auch eine Luftmatratze und einen Schlafsack dabei. Viele denken direkt, dass man ein Bett haben muss. Ich brauche kein Bett. Zum Schlafen braucht man nur 2 m² trockenen Fußboden.
Das Außergewöhnlichste, wo ich geschlafen habe, war in einem Glockenturm, direkt unter den Glocken. Der Küster durfte mich nicht im Pfarrhaus übernachten lassen. Er war aber sehr hilfsbereit und da sich keine andere Übernachtungsmöglichkeit bot, kam er auf die Idee, dass ich im Glockenturm schlafen könnte.
Es regelt sich dann nach und nach alles mit der Erfahrung. Letztlich braucht man ja auch nicht viel. Manchmal habe ich unter einer Brücke geschlafen, auf einer Wiese im Wald, im Bushaltehäuschen, im Parkhaus, oft in Pfarrheimen, bei Privatleuten im Wohnzimmer. Für Unterkunft und das Fortkommen dürfen wir ja kein Geld ausgebeben.
Manchmal habe ich auch einfach in Hotels gefragt. Einmal habe ich sogar in einem Vier Sterne Hotel geschlafen, kostenlos. Natürlich bekommt man dann nicht das größte Zimmer, aber für eine Nacht lassen die Leute einen übernachten. Im Winter bedeutet das aber, dass man auch einmal bei Minustemperaturen draußen schlafen muss.
(Tim-Luca Saur auf der Walz irgendwo in Oberbayern am 16. Januar 2021)
Bei Minus 2 Grad habe ich alle Klamotten angezogen, mich in einen Pavillon gelegt und dort übernachtet.
Man hat auch immer alles was man braucht dabei, und was man nicht hat und dennoch benötigt, danach fragt man dann eben, z.B. wenn man mal Duschen möchte. Die Hilfsbereitschaft gegenüber Wandergesellen ist sehr groß, davon lebt die Wanderschaft.
An den jeweiligen Arbeitsstätten musste das natürlich anders organisiert werden. Ich habe mal drei Monate in einem Keller gewohnt, den ich mir ein bisschen wohnlich eingerichtet habe.
WiF: Du bist ja dann im Herbst 2019 losgewandert. Wenige Monate später kam schon das Problem Corona um die Ecke. Wie hat sich das auf Deine Wanderschaft ausgewirkt?
Tim-Luca: Corona kam zu dem Zeitpunkt auf, als ich meinen Nagel durch das Ohr bekommen habe. Das ist das Zeichen dafür, dass ich alles weiß und kann und auf der Straße selber klar komme. Danach zieht man alleine und eigenverantwortlich weiter.
Man gibt damit auch das Versprechen ab, für mindestens drei Jahre und einen Tag als Wandergeselle zu reisen und den Ruf der Wandergesellen nicht in Verruf zu bringen.
Außerdem muss man noch ein Versprechen abgeben, dass man etwas für die Wandergesellenszene tut, z.B. ein Treffen organisiert. Ich wollte auch gerne ein Treffen organisieren. Letztlich war das aber nicht so möglich, wie ich es eigentlich vorhatte. Denn ich hätte gerne mein Hobby gezeigt: Live-Action Rollenspiele im Bereich Endzeit. Gerne hätte ich dazu für die Wandergesellen eine besondere Veranstaltung organsiert. Dazu bin ich aber leider nicht gekommen, weil der Rahmen dafür nicht da war. Stattdessen habe ich eine große gemeinnützige Sommerbaustelle mitorganisiert, Leute auf traditionelle Wanderschaft gebracht, Möbel für eine Wandergesellenherberge gebaut und einiges mehr.
Von Corona hatte ich schon vor dem Beginn meiner Wanderschaft im Internet erfahren, da das damals ja schon ein Thema in China war. Da war das lange noch nicht in Deutschland aufgetaucht. Nach den drei Monaten, die ich mit meinem Altgesellen gereist bin, war es dann so, dass ich bei einer Losgeherei dabei war. Da war es dann schon so, dass es Beschränkungen für die Gruppengröße gab und es in den ersten Lockdown hineinging. Wir wollten den Gesellen mit 20 Leuten aus seiner Bannmeile hinaus begleiten. Das sollte eigentlich insgesamt 5 Tage dauern, hat dann aber coranabedingt 1 ½ Wochen gedauert.
Wir sind in dieser Zeit alle zusammen geblieben. Das war schon eine sehr außergewöhnliche Situation. Wir waren fast nur zu Fuß unterwegs. Einmal wurden wir in einem Pferdeanhänger mitgenommen. Da wo wir zu Gast waren, sind wir nie mit mehr als zwei Personen rausgegangen, weil vielleicht sonst jemand die Polizei gerufen hätte. Zwischendurch hat dann auch jemand die Polizei gerufen, als er unsere Gruppe auf der Straße beim Wandern gesehen hat. Die Polizei kam dann auch. Sie waren sehr freundlich, haben uns einen Zettel mit den aktuellen Coronabestimmungen gegeben, haben uns freundlich gebeten, unsere Gruppe in Zweierpärchen aufzuteilen und mit Abstand zu gehen. Aber der Polizist meinte auch, jeden Tag würden sich die Regeln ändern.
Ich habe dann meine Wanderschaft zu dem Zeitpunkt so angepasst, dass ich so ungefähr drei Wochen bis einen Monat an einem Ort geblieben bin. Dann bin ich zwei oder drei Tage gereist, um an einen anderen Ort zu kommen und dann wieder länger geblieben. Für mich selber war es wichtig, dass ich keine anderen Menschen gefährde oder anstecke, so dass ich mich ständig getestet habe. Ich habe aber mir selbst keine Angst vor Corona gemacht. Später habe mich dann impfen lassen, weil ich mich als Wandergeselle als Vorbild gesehen habe.
Der Informationsstand hat sich allerdings auch dauernd geändert. Zudem war in zu der Zeit in allen Bundesländern unterwegs. Die Regeln waren überall unterschiedlich. In Schleswig-Holstein hatten die Kneipen wieder geöffnet, während in Bayern dann noch harter Lockdown mit Ausgangssperre herrschte.
Alle Menschen sind auch unterschiedlich mit Corona umgegangen. Die einen hatten sehr viel Respekt oder sogar Angst, andere gingen eher entspannt damit um. Jeder hatte unterschiedliche Erfahrungen im Bezugskreis. Das Trampen war zwischendurch schwierig, weil einfach keine Autos unterwegs waren. Manchmal hat man am Tag nur 5 Autos gesehen.
Wir dürfen ja für das Fortkommen kein Geld ausgeben, aber ich kann in den Zügen beim Schaffner nachfragen, ob ich auch kostenlos mitfahren kann. Während der Corona-Zeit war das die einzige Möglichkeit, weite Strecken hinter sich zu bringen. Das hat auch sehr gut geklappt, die Schaffner zu fragen, da die Züge ohnehin fast leer waren. Auch an den Hauptbahnhöfen war es ziemlich leer. Schwierig war es mit dem Essen, da auch Restaurants und Kneippen, wo man sich Essen holen konnte, geschlossen hatten. Ich musste mir dann in den Supermärkt das Essen kaufen und da ich nichts zum Kochen hatte, hauptsächlich Brote schmieren.
Als das mit den Masken aufkam, habe ich auf einer großen Baustelle in Thüringen anfangs selbst Stoffmasken für mich und 25 weitere Gesellen auf einer Nähmaschine genäht, die es dort gab.
Es gibt ja über 64 handwerkliche Berufe, die auf Wanderschaft gehen können, über 40 Berufe sind gerade auf Wanderschaft, Männer wie Frauen. Da trifft man auf den Baustellen oder bei den Gesellentreffen auch immer wieder Gewerke, die mit Nähmaschinen arbeiten, z.B. Feintäschner.
(Beispiel einer Großbaustelle: Über 60 Gesellen auf der Walz aus ganz Deutschland 2023 auf der Sommerbaustelle in Dänisch-Nienhof. Sie setzten ihre Arbeitskraft ein, um die Pfadfinderburg Jomsburg umfassend zu renovieren. Bis zum Ende der vierwöchigen Baustelle wurden bis zu 150 Gesellen aus verschiedenen Gesellenvereinen erwartet. FOTO: JOMSBURG)
Auf meiner Wanderschaft konnte ich damit in viele verschiedenen Handwerksberufe hineinschnuppern und auch andere Techniken und Fertigkeiten erlernen. Ich habe im Garten- und Landschaftsbau geholfen, auf Dächern Dachdecker- und Zimmereiarbeiten gemacht, Mauern gemauert, mit Leder und Metall gearbeitet, Holzbildhauerei probiert. Als Tischler habe ich sehr viele große Scheunentore gebaut, einmal sogar ein Burgtor. Für eine große Baustelle habe ich die Finanzen verwaltet und Statistiken angefertigt. Ich habe Veranstaltungsplanungen gemacht und war auch auf einer Malerbaustellen Bauleitung.
Sich handwerklich weiterzubilden, ist sehr spannend. Bei mir ist das aber nicht das Hauptmerkmal. Mein Augenmerk liegt auf dem Zwischenmenschlichen. Das tägliche Reden mit den Leuten beim Trampen stand für mich im Vordergrund. Ich erzähl zwar selbst 10 mal am Tag dieselbe Geschichte von mir und meiner Wanderschaft, erfahre aber von den Leuten sehr viel: wie sie leben, welche Berufe und Hobbies sie haben, aber auch welche Sorgen und Nöte sie umtreiben. Man erfährt wirklich alles Mögliche. Ich bin quasi kreuz und quer durch die Gesellschaft geschwommen. Ich bin mit der allein erziehenden Mutter getrampt, aber auch mit dem reichen Firmenchef gereist, der über den Verkauf seiner Firma nachdachte. Man führt gerade mit fremden Menschen meistens sehr intensive Gespräche.
Ich habe dann auch selbst 5 Leute auf Wanderschaft gebracht, 2 Zimmerer, eine Feintäschnerin, einen Schlosser und einen Tischler. Mit jedem bin ich zwei bis drei Monate zusammen gereist und habe ihnen alles beigebracht, was für die Wanderschaft hilfreich ist. Das ist eine sehr intensive Zeit, weil mal ja 24 Stunden 7 Tage die Woche zusammen ist. Ich habe deren Familien kennengelernt und sehr viel über die Person erfahren. Kreuz und quer durch Deutschland kenne ich jetzt Leute. Besonders interessant finde ich jetzt, dass ich mich jetzt zu Hause einrichten kann und dann selbst Leute einladen kann, die mich hier besuchen kommen können, da ich ja in den letzten Jahren überall zu Besuch war.
WiF: Warst Du einer Schacht angeschlossen ?
Tim-Luca: Ich war Freireisender, also nicht einer Schacht angeschlossen. Die Freireisenden sind eher so etwas wie Familien und nicht an die Regeln der Schächte gebunden, die z.B. den Besuch von Pflichtveranstaltungen vorsehen. Andererseits konnte ich dann auch nicht deren Strukturen nutzen, z.B. was manche Unterkünfte der Schächte oder die Arbeitssuche angeht. Ich bekam daher nicht irgendwelche Listen in die Hand gedrückt, sondern musste mir das fast alles selbst erfragen. Aber es ist auch mittlerweile egal, ob und in welchem Schacht man ist, alle können dennoch gemeinsam reisen, egal ob Freireisender oder Schachtangehörige. Es gab auch Zeiten, in denen das anders war.
WiF: Was hat es mit dem Wanderbuch auf sich?
Tim-Luca: Ich selbst habe nichts in das Wanderbuch geschrieben. Da wurde mir immer hineingeschrieben. Da kommen die Siegel und Stempel der Städte hinein, die ich besucht habe. Dazu habe ich mich bei den örtlichen Bürgermeistern vorgestellt und meinen Wanderspruch aufgesagt. Aller Wandergesellen haben einen mündlich überlieferten Spruch, der immer weitergegeben wird. Damit können wir nach dem Siegel, Arbeit oder Essen fragen. Es wird sehr darauf geachtet, dass dieser traditionelle, altmodische Spruch nicht aufgeschrieben oder sonst wie veröffentlicht wird.
Wenn ich in Betrieben oder für Vereine gearbeitet habe, habe ich Arbeitszeugnisse bekommen, die auch in mein Wanderbuch geschrieben wurden. Auch wenn ich andere Wandergeselle beim Losgehen oder Heimgehen. begleitet habe oder auf großen Gemeinschaftsbaustellen war, wurde etwas im Buch vermerkt.
WiF: Wie ist das, wenn man während der Wanderschaft krank wird?
Tim-Luca: Ich hatte viermal Corona. Das erste Mal war richtig hart, die anderen Male gingen. Aber man muss ja auch wegen der Quarantäne irgendwo unterkommen, vor allem im Winter. Oder ich hatte meine Füße wund gelaufen, so dass ich zwei Wochen nicht weiter gehen konnte. Aber wenn man krank ist, wird man von den Familien der anderen Wandergesellen aufgenommen. Manchmal bleibt man auch ein paar Tage bei fremden Menschen, wo man übernachtet hat, wenn es einfach nicht geht. Bei Not- und Trauerfällen darf man ja die Bannmeile durchbrechen und nach Hause reisen. Ich war tatsächlich aber nur einmal innerhalb der Bannmeile, bei der Beerdigung meines Opas in Lommersdorf. Nach der Trauerfeier am Nachmittag, an der ich in Begleitung einer Wandergesellin teilgenommen habe, habe ich abends die Bannmeile wieder verlassen. Ich hatte allerdings auch eine Art Knotenpunkt in Hürth, knapp außerhalb der Bannmeile. Dort habe ich einige Sachen gelagert oder mich auch mal mit meiner Familie getroffen, was ja erlaubt ist.
Wohin ich letztlich gereist bin und gearbeitet habe, war eigentlich immer mehr oder weniger dem Zufall überlassen. Was man eben gerade so von anderen hört oder mitbekommt oder auch mal über Flyer von einer Baustelle erfährt. Länger als drei Monate sollte man auch nicht an einer Stelle bleiben. Es ist eben auch viel Reiselust und Wanderfreude dabei. Mathilda, so nennen die Wandergesellen die Straße, verbindet alle Wandergesellen und Reisenden miteinander. Wir sagen immer, dass Mathilda für uns sorgt. Sie ist fast so etwas wie eine Art Schutzpatronin. Man hat da schon so etwas wie ein Urvertrauen. Alles wird gut und die richtigen Menschen findet man auch genau im richtigen Zeitpunkt.
Mit dem Schutz von Mathilda war ich dann auch letztlich in allen Bundesländern, in allen Regionen und ein bisschen in den Nachbarländern unterwegs: Dänemark, Polen, Tschechien Österreich, Schweiz, Frankreich, Luxemburg.
(Tim-Luca auf dem Schwarzkollm bei Hoyerswerda)
Erstaunlich dabei ist, wie schnell man dabei manchmal zu den gewünschten Zielorten gekommen ist. Beim Trampen klappt das schon, dass man innerhalb von einem Tag von München nach Hamburg reist, natürlich dann von früh morgens bis spät abends, bis in die Nacht hinein. Selten reist man mit Lkws, meistens mit Pkws.
Bei der Silhouette eines Wandergesellens, die so ganz typisch ist, denken die Leute nicht lange darüber nach, anzuhalten und jemanden mitzunehmen, weil die Wandergesellen einen guten Ruf haben und dann keine Bedenken bestehen. Wenn ich ohne Kluft trampen würde, würde ich eventuell länger brauchen, bis jemand anhält. Aber dennoch würde ich gerne auch noch ohne Kluft trampen. Man lernt dabei eben sehr, sehr coole Menschen kennen, die einen auch Reisetipps geben können oder Sehenswürdigkeiten ansprechen, die man nicht kennt. Ich habe einen sehr großen Horizont auf der Wanderschaft bekommen und will noch immer weiter lernen.
WiF: Wo hat es Dir am besten gefallen auf Deiner Reise?
Tim-Luca: Zwischenmenschlich in Schleswig-Holstein, besonders wenn die Leute einen sozialen Beruf ausüben, dann bin ich mit denen auf einer Wellenlänge. So von der Landschaft und den Häusern her fand ich das Vogtland sehr schön. Im Gesamten hat mir das Oberallgäu sehr gut gefallen, Oberstdorf, Fischen im Allgäu, Sonthofen. Dort ist die Natur super schön und die Leute sind sehr aufgeschlossen.
WiF: Welche Arbeit hat Dir am besten gefallen?
Tim-Luca: Da muss ich erst einmal ein wenig nachdenken. In der Nähe von Paderborn habe ich in einer Firma gearbeitet, die Fenster, Türen und Fassaden restauriert. Da habe ich mich mit dem Chef sehr gut angefreundet. Ich war über den Betrieb angestellt, habe aber auch viel bei ihm zu Hause das Haus renoviert. Das war einfach super cool, mit dem zusammen zu arbeiten, obwohl er im Alter meiner Eltern war. Aber das Alter ist mir ja bei Freundschaften egal.
WiF: Hast Du zu irgendeinem Zeitpunkt etwas vermisst oder sogar einen klassischen Tiefpunkt in den entbehrungsreichen Zeiten erlebt?
Tim-Luca: Bei mir ist ein Tiefpunkt erreicht, wenn ich mich einsam fühle. Wenn ich irgendwo länger arbeite und dort keine richtige Bezugsperson habe, dann fühle ich mich isoliert. Aber sobald ich an der Straße stehe und trampe und dann bei jemandem im Auto sitze, genieße ich es, mit Menschen zu reden. Ich bekomme dann auch immer wieder gesagt, wie zufrieden ich aussehe. Den Wohnungskomfort oder digitale Medien bzw. das Internet habe ich gar nicht vermisst, obschon ich vorher viele Videospiele gespielt habe. Ich habe es sehr genossen, minimalistisch zu leben. Alles was ich gebraucht habe, hatte ich immer dabei. Wenn die Zeiten entbehrungsreich sind, dann ist es eher auch so ein bisschen Abenteuer. Mir hat das sehr gefallen.
WiF: Willst Du denn jetzt weiter herumreisen und minimalistisch leben oder doch wieder sesshaft werden?
Tim-Luca: Ich würde mir gerne in den nächsten Jahren ein Tiny-House bauen, weil ich nicht viel Wohnraum brauche. Das kann minimalistisch sein. Aber die Werkstatt muss groß sein. Ich will jetzt auch erst mal hier auf dem Hof meiner Großeltern bleiben. Mir fällt es auch nicht schwer, jetzt wieder sesshaft zu werden, da ich mich sehr schnell und einfach anpassen kann. Andere trauern der Wanderschaft schon nach kürzester Zeit hinterher, da drückt dann ganz schnell wieder der Reiseschuh.
Ich will mein Leben ohnehin nicht so gestalten, dass es in einer Monotonie endet und will daher flexibel bleiben. Jetzt ist es erst einmal hier ein Ankommen und mein Zimmer und die Werkstatt weiter einrichten, damit ich auch Leute einladen kann. In den nächsten Jahren würde ich gerne Kultur und Gemeinschaft in der Eifel fördern. Dazu will ich die Eifel auch erst einmal kennenlernen. Der 50km Radius, den ich hier um Freilingen hatte, ist die Region, in der ich mich noch nicht richtig auskenne. Hier will noch ganz viel entdecken und auch Leute kennenlernen. Ich würde gerne viele Menschen finden, die mit mir und meiner Familie zusammen in den nächsten Jahren ein Hofprojekt realisieren.
(Tim-Luca in seiner Werkstatt auf dem Hof seiner Großeltern)
Ich würde gerne aus dem Hof meiner Großeltern, der ganz leer und karg ist, aber viel Raum und Möglichkeiten bietet, einen Ort für mehrere Generationen schaffen und, einen Handwerker*Innen-, Kultur- und Gemeinschaftshof machen. Das heißt, ich will hier Werkstätten schaffen, in denen die verschiedensten handwerklichen Berufe aber auch andere Berufe auch wirtschaftlich arbeiten können, wo es Lernorte gibt, berufsübergreifender Austausch stattfindet und junge Menschen und Menschen generell für sich das finden können, was sie gerne machen wollen: ein Beruf nicht nur zum Geld verdienen, sondern ein Beruf, der ihnen auch Spaß macht.
Generell möchte ich mich auch ehrenamtlich, z.B. in Vereinen engagieren. Ich würde vielleicht gerne eine Jugendleiterkarte (Juleica) machen, um konkret mit jungen Menschen arbeiten zu können, z.B. in Jugendherbergen im Bereich Freizeitgestaltung oder vielleicht auch in Schulen im Werksunterricht. In jedem Fall möchte ich flexibel bleiben. Auch habe ich noch ganz viel Lust auf Handwerk, z.B. bei „Gesellen helfen“, die noch in vielen, von der Flut beschädigten Häusern arbeiten. Dann kann ich noch viel lernen, Arbeit machen, die Spaß macht und gleichzeitig Menschen in der Region helfen.
WiF: Was ist Dein Fazit und würdest Du die Wanderschaft weiter empfehlen?
Tim-Luca: Traditionelle Wanderschaft ist etwas, was einen Menschen persönlich sehr weit bringt. Ich habe zu 99 % positive Erfahrungen gemacht. Die Welt ist nicht so schlimm, wie man immer meint. Die Kluft, die man in der Öffentlichkeit immer trägt, ist letztlich wie eine Rüstung, die Unheil abhält, die aber auch Interesse weckt und Menschen dazu bringt, einen anzusprechen und nachzufragen.
Es sind sehr viele Erfahrungen, die man in kurzer Zeit sammelt und viele Menschen, die man kennen lernt. Man lernt wirklich fürs Leben und hat die Freiheit zu sagen, ich reise, um zu arbeiten und arbeite, um zu reisen. Wir bestimmen selbst, wann wir arbeiten, für wen wir arbeiten und wo wir arbeiten und für wieviel wir arbeiten, ob für den ortsüblichen Gesellenlohn oder für Kost und Logis für ein gemeinnütziges Projekt.
Man hat die absolute Freiheit und ist nicht gezwungen, im eigenen Handwerk zu bleiben. Man kann sich andere Berufe anschauen, egal ob handwerklich oder nicht. Ich kenne einen Klempner, der ist nach der Wanderschaft Pfarrer geworden, ich kenne eine Tischlerin, die inzwischen Jugendarbeit macht und einen Goldschmied, der jetzt Schmied lernt. Einige studieren auch nach der Wanderschaft, z.B. Architektur.
Wanderschaft ist etwas für Menschen, die Sicherheit aufgeben können, dafür aber sehr viele Chancen und Möglichkeiten bekommen, Neues zu entdecken. Ich habe ein Jahr gebraucht, um jemanden zu finden, der mich auf Wanderschaft bringt und in diesem Jahr habe ich super viel darüber gelernt. Ich würde es auf jeden Fall empfehlen, aber es nicht unbedingt für jeden etwas, da es auch sehr anstrengend ist.
Für jeden jungen wie alten Menschen würde ich aber reisen empfehlen: ob man jetzt den Jakobsweg lang läuft oder work and travel macht oder mit dem Rucksack durch die Welt reist. Es gibt so viel zu erleben und zu lernen.
WiF: Tim-Luca, wir danken Dir ganz herzlich für das ausführliche und interessante Gespräch und wünschen Dir für Deinen weiteren Weg und Deine Ziele ganz viel Erfolg.
Tim-Luca: Dankeschön!